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Vortrag Dr. Borgstedt über Dr. Emsheimer

Datum: 14.11.2007

Kurzbeschreibung: Unrecht im Namen des Rechts. Zum Gedenken an die 1933 bis 1935 auf dem badischen Justizdienst entlassenen jüdischen Richter

Unrecht im Namen des Rechts. Zum Gedenken an die 1933 bis 1935 aus dem badischen Justizdienst entlassenen jüdischen Richter



Angela Borgstedt



Zu den elementaren, den Krisenerfahrungen des 20. Jahrhunderts gehört der Verlust von Sicherheit: der Verlässlichkeit nachbarschaftlicher, kollegialer oder familiärer Beziehungen, der Verbindlichkeit von Regeln und Normen, von Recht, dies alles als Folge einer umfassenden Politisierung des Alltags, des Familien-, des Schul- und des Berufslebens. Recht als Umgrenzung eines Schutzraumes, wie Hannah Arendt gesagt hat, ist im Zeitalter der Diktaturen nicht mehr als eine retrospektive Beschwörung oder ein zukunftsorientierter Wunsch. Diktaturen zerstören Regelsysteme und damit die Grundlage eines Zusammenlebens in Sicherheit. Was das bedeutet, hat der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga früh ermessen. In seinem 1938 erschienenen Buch homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel hat er das Spiel als wesentliche soziale Struktur und Basis von Kultur beschrieben und dabei – vielleicht zu Ihrer Überraschung – den Spielcharakter selbst des Rechtshandelns betont, welches nach festen Regeln und mit einem festgelegten Rollenverständnis der Beteiligten erfolgt. Er hatte die Zerstörung des Rechtsstaates vor Augen. Und deshalb trieb ihn im homo ludens die Frage um: Was ist, wenn die Spielregeln einseitig verletzt, zum Nachteil eines Mitspielers verändert werden? Wenn Regeln, Normen, wenn Recht Einzelnen oder Minderheiten gegenüber elementar gebeugt, gebrochen werden? Wenn ich im Folgenden an die sieben 1933 bis 1935 verdrängten badischen Amtsrichter erinnere, soll dieser Aspekt der individuellen Verlust- und Verunsicherungserfahrung, der Erfahrung des Rechts- und Normenbruchs Grundkonstante meiner Ausführungen sein.

Wenige Wochen nur nach der sogenannten „Machtergreifung“ stürmten am 11. März 1933 SA-Männer das Breslauer Amtsgerichtsgebäude und prügelten diejenigen anwesenden Juristen, die sie für jüdisch hielten, auf die Straße. „Man sah Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, wie sie, manche in Amtsroben, von kleinen Gruppen der braunen Horde auf die Straßen getrieben wurden. Überall rissen die Eindringlinge die Türen der Verhandlungszimmer auf und brüllten ‚Juden raus’. [...] Ein geistesgegenwärtiger junger Assessor, der gerade seine Sitzung abhielt, schrie sie an: ‚Macht, dass ihr rauskommt’, worauf sie sogleich verschwanden. In einem Zimmer saß ganz allein ein jüdischer Referendar. Zwei Hooligans schrieen ihn an: ‚Sind hier Juden?’ Er erwiderte seelenruhig: ‚Ich sehe keinen’ – worauf sie die Tür zuwarfen und weiterzogen.“ In den nächsten Tagen spielten sich ähnliche Szenen am Landgericht, schließlich am Oberlandesgericht ab. Doch damit nicht genug, das Breslauer Beispiel machte Schule. So kündigte Ende März die nebst SA und SS vor dem Görlitzer Gerichtsgebäude aufmarschierte Kreisleitung ein Ende jenes „Zustands völkischer Unwürdigkeit“ an, dass „jüdische Richter deutsche Volksgenossen“ verurteilten. In Köln wurden jüdische Richter im Müllwagen durch die Straßen gefahren. Und in Mannheim forderte der vor dem Schloss versammelte Mob explizit die Absetzung des Amtsrichters und SPD-Mitglieds Dr. Hugo Marx. Einer der beteiligten Aktivisten, Rechtsanwalt Friedrich Ludwig Meyer, rechnete es sich als persönliches Verdienst an, „dass jüdischen oder ‚jüdisch stämmigen’ Richtern und Anwälten von einem Tag auf den anderen der Zugang zum Gericht verwehrt wurde.“ Was Meyer und die SA-Horden vieler anderer deutscher Städte in jenen Wochen als so bezeichnete „völkisch-revolutionäre Tat“ brachial durchzusetzen bezweckten, das wollten die kommissarischen Justizminister der Länder auf dem Verordnungsweg vollenden: Die sofortige Entfernung sämtlicher so kategorisierter Juden aus der Justiz.

„Die Judenfrage in der Justiz“, so der in Baden amtierende Johannes Rupp, „schreit nach einer Lösung. Jedes Land unternimmt andere Maßnahmen. In Württemberg ist so viel wie nichts geschehen, in Bayern sind die Maßnahmen sehr weit vorgeschritten. [...] Ich denke mir die Regelung wie folgt: Grundsatz muss sein, dass es jüdische Richter nicht mehr geben darf, weder als Zivil- noch als Strafrichter. Kein Grundsatz lässt sich jedoch – wenigstens anfänglich – in Starrheit durchführen. Es gibt jüdische Richter, die schwerkriegsbeschädigt sind oder aus sonstigen Gründen irgend eine Nachsicht verdienen. Hier muss der Landesjustizverwaltung die Ausnahmemöglichkeit offen gelassen werden in äußerst beschränktem Maße (Baden etwa 2) Juden als Zivil- (unbedingt nicht als Straf-)richter zu verwenden.“

Daran, erst recht gemessen an der vollmundigen Ankündigung einer „unverzüglichen Säuberung sämtlicher deutscher Gerichte bis hinauf zum Reichsgericht“, waren die Konsequenzen des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 doch deutlich weniger weitreichend. Das soll die Relevanz des Gesetzes als gravierenden Eingriff in das Beamtenrecht und speziell die Unabsetzbarkeit des Richters nicht bestreiten. Doch hatte die von Rupp bereits angedeutete Ausnahmeregelung für Kriegsteilnehmer und Angehörige Gefallener, dazu für die schon vor dem Ersten Weltkrieg ernannten Beamten dazu geführt, dass von den 41 so kategorisierten jüdischen Richtern Badens 27 vorerst im Amt verblieben. Der „Normenstaat“ hatte sich hier scheinbar gegenüber der „revolutionären Bewegung“ durchgesetzt. In der Folgezeit suchte Rupps Nachfolger Otto Wacker nach Wegen, um die als ungenügend empfundene Entlassungsquote zu erhöhen. So bot § 4 des „Berufsbeamtengesetzes“ die Möglichkeit der Entlassung auch von Kriegsteilnehmern, wenn ihr „rückhaltloses Eintreten für die Belange des Staates“ nicht zu erwarten sei. Dazu genügte eine oft genug konstruierte Sympathie für die politische Linke.

„Amtsgerichtsrat Karl Eisemann in Karlsruhe, der nichtarischer Abstammung ist, würde an sich unter die Ausnahmevorschrift des § 3 Absatz 2 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 fallen, da er Frontkämpfer ist. Nach den gemachten Erhebungen [...] bietet er jedoch nach seiner bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür, dass er jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintritt. Es wird ihm nämlich vorgeworfen: 1. allgemein bezeigte und in häufigen, auch während des Dienstes mit Kollegen und Untergebenen geführten Gesprächen betätigte kommunistische Gesinnung; 2. gehässige Herabsetzung der nationalen Erhebung durch Anzweiflung der kommunistischen Täterschaft am Reichstagsbrand.“

Wer mit diesen Mitteln nicht verdrängt werden konnte, der musste möglicherweise die Versetzung hinnehmen. So erwog die Justizverwaltung die Abschiebung des einzig verbleibenden jüdischen Amtsrichters in Mannheim, Dr. Paul Jordan, weil man „ihn [hier] als Einzelrichter auf exponiertem Posten [...]“ nicht belassen wollte. Kampagnen, die wir heute als „mobbing“ bezeichnen würden, taten ein übriges, um den Verdrängungsprozess zu beschleunigen. Nichts anderes als „mobbing“ erlebte Karl Eisemann, dessen Kollegen vorgebliche oder tatsächliche, im Vertrauen auf Kollegialität gemachte Äußerungen denunzierten. Die Reaktionen der Kollegen am Pforzheimer Amtsgericht auf die öffentliche Diffamierung und Schmähung Emil Odenheimers kennen wir nicht. Wir ahnen aber, dass sich der Amtsrichter, dem die lokale HJ Briefe, adressiert an den „Rotarier & Rasse-Juden Novemberling Dr. Odenheimer“ schickte, allein gelassen fühlte. Gesundheitlich war er bald dermaßen angegriffen, dass er monatelang krankgeschrieben war. Die Genehmigung seines vorzeitigen Ruhestands datierte wenige Monate vor Erlass der ersten Verordnung zum sogenannten „Reichsbürgergesetz“ vom November 1935, das Juden lediglich den Status eines Staatsangehörigen, nicht aber des Reichsbürgers zuerkannte. Wer aber kein Reichsbürger war, der durfte auch nicht länger Staatsdiener sein. Wie alle jüdischen Beamte – und wer nach NS-Kategorien „Jude“ war, das hatten die berüchtigten Nürnberger Gesetze ebenfalls 1935 festgeschrieben - wurden die verbliebenen Amtsrichter mit sofortiger Wirkung beurlaubt und zum Jahresende zwangspensioniert. Anfang 1937 bot schließlich das Deutsche Beamtengesetz auch die Handhabe zur Suspendierung sogenannter „jüdischer Mischlinge“, ja, selbst der nichtjüdischen Ehepartner von „Nichtariern“.

Sie haben meinen Ausführungen zur Verdrängung Karl Eisemanns und Emil Odenheimers sicher entnommen, dass es mir weit mehr um die Darstellung der Konsequenzen nationalsozialistischer Entrechtung für die Betroffenen als um eine Chronologie der jeweiligen Maßnahmen geht. Was bedeutete es für einen seit dem Jahr 1900 im badischen Notariat, sodann im Richteramt tätigen Juristen wie Karl Lingert, von pöbelnden SA-Rabauken in der Dienstausübung gestört zu werden? Wie fühlte sich ein junger Amtsrichter wie Arthur Emsheimer, der, seiner Unabsetzbarkeit bislang gewiss, die Entlassungsmitteilung in den Händen hielt? Was löste der damit einhergehende Status- und Tätigkeitsverlust, dazu der Verlust des beruflichen Umfelds bei einem Richter und liberalen Landtagsabgeordneten wie Guido Leser aus? Wie reagierte ein junger, wie reagierte ein am Ende der Berufslaufbahn von solchem Unrecht und von solcher persönlichen Kränkung betroffener Richter? Wie bewältigte er eine mitunter sogar doppelte Verlusterfahrung, wenn zur Berufslosigkeit auch noch die Heimatlosigkeit des Exils hinzukam? Es sind diese Fragen, die meine folgende Annäherung an die Biographien von wenigstens drei der sieben heute zu erinnernden Amtsrichter begleiten sollen.

Er habe nach seiner Entlassung sehr zurückgezogen gelebt, erklärte Karl Eisemann 1945 der amerikanischen Militärbehörde, und zu den früheren Kollegen keinerlei Kontakt mehr gehabt. Verlust, Ausgrenzung und Isolation, zuletzt die Stigmatisierung durch den „gelben Stern“, diese Begrifflichkeit, dieses Vokabular seiner Traumatisierung zieht sich fast leitmotivisch durch die Erinnerungen und Aussagen nach 1945. Insofern lässt sich kaum überschätzen, was ihm der 1942 erneuerte Kontakt zu seinem einstigen Richterkollegen Gerhard Caemmerer bedeuten musste.


Dieser versuchte gerade, eine ihm vom Sehen bekannte Jüdin vor der Deportation zu bewahren. Und Eisemann war als Vorsitzender der Bezirksstelle Baden-Pfalz der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland in diesem Fall sein Ansprechpartner. Wir urteilen als Nachgeborene schnell über die Mitwirkung in Institutionen wie der Reichsvereinigung. Wir sollten jedoch bedenken, dass an ihrer Spitze – so formulierte es ein überlebender Mitarbeiter aus Stuttgart –, „keine Schergen der Nazis standen, sondern hervorragende Persönlichkeiten wie Ministerialrat Dr. Otto Hirsch, Stuttgart, [...] [oder] Dr. Leo Baeck, Rabbiner in Berlin, später Theresienstadt [...].“ Und wir sollten wissen, dass auch Karl Eisemann seine Position unerschrocken dazu nutzte, wenigstens Erleichterungen zu erwirken. So konnte er als ehemaliger Offizier seine Kontakte zur Wehrmacht aktivieren, um 1940 einen Paketservice zu den im südfranzösischen Lager Gurs Inhaftierten einzurichten. „Gerade diese Angelegenheit“, bestätigte ein weiterer Zeuge, „war mit Risiko verbunden, da wir niemals ohne Erlaubnis der Gestapo uns an die Wehrmacht wenden durften und bei Bekanntwerden der Sache staatspolizeiliche Maßnahmen und das hieß bei Juden stets Schutzhaft und Tod riskierten.“]

Eisemann und Caemmerer konnten die Deportation der älteren Dame nicht verhindern. Beide blieben [jedoch] fortan in solch vertrauensvollem Kontakt, dass Caemmerer den einstigen Richterkollegen gar zu einem Gesprächskreis systemkritischer Juristen einlud, der sich regelmäßig in seiner Durlacher Wohnung traf.


Caemmerer lud seinen einstigen Richterkollegen gar zu einem Gesprächskreis systemkritischer Juristen ein, der sich regelmäßig in seiner Durlacher Wohnung traf.

Teilnehmer waren neben Rechtsanwalt Hermann Veit, dem späteren Karlsruher Oberbürgermeister und langjährigen Wirtschaftsminister in Stuttgart, die Theologin Hannelore Hansch, die – selbst „rassisch“ Verfolgte – auf dem Rittnerthof zwei Berliner Jüdinnen versteckte, und über sie sporadisch ihr Onkel Thomas Dehler, der nachmalige Bundesjustizminister. Dass es dem „Caemmererkreis“ mit einer Wiederherstellung von Menschlichkeit und Recht ernst war, sollte Eisemann in der Endphase des Krieges erfahren:

„Als ich im Februar 1945 für einen Transport nach dem Ghetto Theresienstadt eingeteilt wurde, habe ich mich der Verschleppung entzogen und bin am Abend des 12. Februar 1945 untergetaucht. [Gerhard Caemmerer besorgte Quartier und Verpflegung.] Mit zwei Leidensgenossen habe ich heimlich in einer Gartenhütte auf dem Turmberg in Durlach gelebt und wurde von [den] Freunden mit Lebensmitteln versorgt. Die Umstände, unter denen ich das Ende des Naziregimes abwarten musste, waren menschenunwürdig. Es war uns nicht möglich, während des Tages die Hütte zu verlassen oder in ihr Feuer zu unterhalten. [Und beinahe wurde das Versteck bei einer Razzia entdeckt.] Obwohl die Stadt Karlsruhe am 4. April 1945 von der französischen Armee besetzt wurde, konnte ich mich erst vom Morgen des 7. April an frei bewegen, nachdem die deutschen Truppen in der Nacht den Turmberg geräumt hatten.“

Mit dem Wiederaufbau der Justiz unter amerikanischer Regie begann die Rehabilitierung Karl Eisemanns. Ende August 1945 erfolgte die Ernennung zum Amts- und Landgerichtsdirektor, zugleich übertrug ihm die Besatzungsmacht die ungeliebte Aufgabe einer Entnazifizierung all jener, die aus Überzeugung, Opportunität und Karrierestreben zu Hauptschuldigen, „Anschmeißern“ (Carl Zuckmayer) oder Mitläufern geworden waren. Die Notwendigkeit einer politischen Säuberung war auch ihm unstrittig. Eisemann übernahm sein Amt als Vorsitzender einer Spruchkammer aber deshalb ungern, weil er fürchtete, die Mitwirkung eines Juden könnte neuem Antisemitismus Vorschub leisten. Seine Berufslaufbahn beschloss er als Präsident des Verwaltungsgerichts Karlsruhe, ein Amt, das er von 1948 bis zur Erreichung des Pensionsalters 1964 bekleidete. Eisemann starb 87-jährig in einem Altersheim.

Den Mannheimer Amtsrichter Paul Jordan schildert sein Kollege Hugo Marx als hochbegabten, stillen Menschen, der nie daran dachte, Karriere zu machen. „Die völlige Freiheit und Unabhängigkeit des Richters, wie sie eigentlich nur dem Einzelrichter beim Amtsgericht eigen ist [...], war sein Ideal.“ Es scheint, dass dem ledig Gebliebenen der Beruf Lebensinhalt war und dass dieses Leben seinen Sinn verlor, als Jordan 1935 aus einer von ihm geleiteten Gerichtsverhandlung heraus im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Amt gejagt wurde. Die Tochter seines Vetters, des gleichfalls 1935 entlassenen Oberlandesgerichtsrats Dr. Karl Jordan, berichtet von mehreren Suizidversuchen. 1940 schließlich konnte sie ihn von diesem Schritt nicht mehr zurückhalten.

Hugo Marx, der Mannheimer Amtsrichter, dessen Absetzung der skandierende Mob Ende März 1933 so lautstark gefordert hatte, war, verschiedentlich gewarnt, noch in der folgenden Nacht zu Verwandten in die Schweiz geflüchtet. Angesichts der akuten Bedrohung verbot sich jedes Zögern. Der schließlich ebenso in die Schweiz emigrierte Arthur Emsheimer konnte sich nur allmählich zu einem solchen Schritt entscheiden. Was Juristen den Weg ins Exil so sehr erschwerte, war die berufliche Perspektivlosigkeit. Wer im erlernten Beruf arbeiten wollte, der musste zumindest die Fachprüfungen nachholen, zumeist ein ganzes Studium, als Richter zudem die neue Staatsbürgerschaft erwerben. Einem meist mittellosen Emigranten mit Familie war dies nicht möglich. Hugo Marx stellte insofern eine Ausnahme dar. Er erwarb in Frankreich die sogenannte licence en droit und hatte in Brüssel gerade das Doktorat erworben, als deutsche Truppen Belgien, die Niederlande und das nördliche Frankreich besetzten. Damit waren seine Berufspläne hinfällig. Vielmehr galt es nun, auf endlos verstopften Straßen und in einem Chaos, das der erst kürzlich wiederentdeckte Roman „suite française“ der Literatin Irène Némirovsky thematisiert, dem Zugriff der Deutschen zu entkommen. Für Marx und seine Frau begann eine wochenlange Odyssee in Richtung Südfrankreich, der kontrastierend die entnervende Wartezeit auf Transit- und Einwanderungspapiere sowie eine Schiffspassage nach Übersee folgte. Anfang 1941 waren die Eheleute noch voller Hoffnung, bald das sichere Exil in Brasilien zu erreichen. Tatsächlich gerieten sie auf der Fahrt entlang der afrikanischen Nordwestküste jedoch mitten in das Kriegsgeschehen. Tagelang lag ihr Schiff in Dakar vor Anker. Schlimmer noch als Hitze und Enge war die Ungewissheit über den weiteren Verlauf der Reise. Und dann das Entsetzen, als es zurück ging nach Casablanca, die Erleichterung, als Lissabon das nächste Ziel war und nicht, wie befürchtet, der Ausgangshafen Marseille. Im Juni 1941, ein Jahr nach ihrer Flucht aus Brüssel, erreichten Hugo und Gerti Marx glücklich New York. Nach Heidelberg, ihrem früheren Wohnort, kehrten sie nur noch besuchsweise zurück.

„Wir haben uns gefreut, Sie bei unserer Begegnung ganz als den alten wiedergefunden zu haben, schrieb ihm Gustav Radbruch nach dem Wiedersehen 1949 in Heidelberg. „Wir haben aber doch auch herausgefühlt, ein wie schweres Schicksal die Emigration ist, ein Heimat- und Entwurzeltwerden, das jedenfalls in höherem Lebensalter an dem Neuen keinen Ersatz mehr findet.“

Der Nachsatz Radbruchs scheint mir weit eher Befindlichkeit und Lebensgefühl der fünf überlebenden unserer sieben Amtsrichter nach 1945 wiederzugeben. Selbst Eisemann und Odenheimer, die als Landgerichtsdirektoren in Karlsruhe respektive Baden-Baden an einem Wiederaufbau des Rechtsstaates tätig mitwirkten, trugen die Verlusterfahrung in sich, die eben nicht nur den Lebensweg der Emigranten prägte: Verlust von Sicherheit, von Vertrauen, von Kollegialität und vor allem der Verlässlichkeit der Koordinaten von Recht und Unrecht. Der neue demokratische Rechtsstaat hat viel für ihre Rehabilitierung und Entschädigung getan. Die fundamentale Unrechtserfahrung konnte er ihnen allerdings nicht kompensieren. Mit den erlittenen Verletzungen hatten die Überlebenden zu überleben.



Benz, Wolfgang: Von der Entrechtung zur Verfolgung und Vernichtung. Jüdische Ju­risten unter dem nationalsozialistischen Regime. In: Heinrichs, Helmut u.a. (Hrsg.): Deutsche Juristen jüdischer Herkunft. München 1993. S. 813–852, S. 815.

Ebd., S. 817.

Anlage zum Personalbogen, S. 3, GLA 465c/1400.

Badisches Justizministerium an den Beauftragten des Reichskommissars für das Land Baden, 4. April 1933, GLA 234/4052.

Benz, S. 819.

So das Präsidium des Landgerichts Mannheim, zit. nach Fliedner, Judenverfolgung in Mannheim, S. 496.

OLGRat Alfred Marx an die Zentralspruchkammer Nordbaden, 7. April 1949, GLA 465a/51/6/6004.

GLA 465a/51/6/6004.

Karl Eisemann an das Landesamt für Wiedergutmachung, 1. Februar 1957, GLA 480 EK 5277.

GLA 537/Zug. 1999-66/Nr. 18.

Marx, Hugo: Das Schicksal der im Jahre 1933 in Mannheim amtierenden jüdischen Richter. Ein Beitrag zur Soziologie der Mannheimer Justiz. In: Mannheimer Hefte 1961, 3, S. 19–25, hier S. 25.

Radbruch, Gustav: Briefe II (1919-1949). Heidelberg 1995 S. 315.

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